Preisgekrönte Forschungsbrücken von Stuttgart in die Permafrostregion Sibiriens [17.09.20]
Für ihre Forschungsanbahnung und Zusammenarbeit mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Jakutien wurde die Universität Hohenheim jetzt vom Auswärtigen Amt ausgezeichnet.Dt.-Russische Kooperation: Universität Hohenheim erhält Preis für Jakutien-Initiative
Pressemitteilung der Universität Hohenheim
„Durch gemeinsame Forschung die Auswirkungen des Klimawandels besser verstehen“ ‒ unter diesem Motto steht die Zusammenarbeit der Universität Hohenheim in Stuttgart mit Forschungseinrichtungen in der russischen Republik Sacha (Jakutien). Jetzt wurde diese Initiative im Wettbewerb „Brücken für die deutsche-russische Hochschulzusammenarbeit“, gemeinsam mit 24 anderen Preisträgern, ausgezeichnet. Die feierliche Preisverleihung fand im Rahmen der Abschlussveranstaltung des „Deutsch-Russischen Themenjahres der Hochschulkooperation und Wissenschaft“ am 15. September 2020 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und zugleich virtuell in Moskau statt. Die Ehrung in Berlin erfolgte durch Andreas Görgen, Leiter der Abteilung für Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt, sowie Sergei Jurjewitsch Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation. In Moskau überreichten der Sonderbeauftragte des Präsidenten der Russischen Föderation für die internationale kulturelle Zusammenarbeit Michail Schwidkoj und die Gesandtin der Deutschen Botschaft Moskau Beate Grzeski die Urkunden. Für die Universität Hohenheim nahm der wissenschaftliche Koordinator der Jakutien-Initiative Prof. Dr. med. vet. Ludwig E. Hölzle den Preis entgegen.
Im Gedenken an einen der Wegebereiter und den ersten wissenschaftlichen Koordinator auf jakutischer SeiteDr. Ayaal Stepanov
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„Ich freue mich sehr über die Auszeichnung und nehme den Preis stellvertretend für alle Projektpartner entgegen, die jetzt leider aufgrund der Corona-Pandemie nicht persönlich dabei sein können“, sagte Prof. Dr. med. vet. Hölzle. „Durch die Zusammenarbeit und das Engagement aller konnten wir nicht nur neue Forschungsfelder erschließen, sondern wollen auch einen Beitrag zur Beantwortung wichtiger Zukunftsfragen leisten, wie beispielsweise zu den Auswirkungen des Klimawandels und den Schutz von Umwelt und Gesundheit. Diese können nur in internationaler Kooperation und im Verbund von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft gelöst werden.“
Bereits seit 2018 entwickeln die Universität Hohenheim und Partnereinrichtungen in Jakutsk unter der wissenschaftlichen Koordination von Prof. Dr. med. vet. Hölzle eine gemeinsame Forschungsagenda: „Dabei arbeiten wir sowohl mit universitären als auch mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Jakutsk zu den Hauptthemen Nachhaltiges Leben, One Health, Bioökonomie und Biodiversität zusammen.“
Unterstützt wird er dabei vom Forschungszentrum für Gesundheitswissenschaften (FZG) an der Universität Hohenheim. „Gemeinsame Veranstaltungen, Symposien, Projekte, Publikationen und ein Fonds für den wissenschaftlichen Nachwuchs bilden die Basis dieser Initiative und sollen Kooperationsanbahnungen unterstützen sowie den Austausch von Erfahrungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturelle Einsichten ermöglichen“, erläutert Katerina Potapova vom FZG den Ansatz.
Jakutien als „Reallabor“ für Klimawandel und Anpassung
Für viele agrar-, natur- und gesellschaftswissenschaftliche Fragen, die mit dem Klimawandel in Zusammenhang stehen, stellt die russische Republik Sacha (Jakutien) geradezu ein Reallabor dar. Denn der Klimawandel stellt vor allem arktische und subarktische Gebiete vor besondere Herausforderungen: Menschen, Tiere, Pflanzen und auch Mikroorganismen haben sich im Laufe der Jahrtausende an die extremen Bedingungen in diesen Breitengraden angepasst und sind deshalb gegenüber Temperaturveränderungen besonders anfällig bzw. verändern ihre Eigenschaften.
Taut beispielsweise der bislang dauerhaft gefrorene Permafrostboden durch die fortschreitende Klimaerwärmung auf, verändern sich Bodenstrukturen, Vegetation und Lebensräume. Diese Veränderungen beeinflussen nicht nur das empfindliche Ökosystem, sondern haben auch sozioökonomische, kulturelle und gesundheitliche Folgen. So kann beispielsweise die traditionelle Form der Landwirtschaft auf dem aufgetauten Boden nicht mehr weitergeführt werden, oder Krankheitserreger können sich bei den höheren Temperaturen leichter und auf veränderten Infektionswegen ausbreiten.
Klimabedingte Veränderung der Landnutzung
„Im hohen Norden schreitet der Klimawandel schneller voran als bei uns. Diese Region erwärmt sich etwa doppelt so schnell wie die Erde im Mittel“, erläutert Prof. Dr. Thilo Streck, Leiter des Fachgebietes für Biogeophysik. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Erforschung des regionalen Klimawandels.
„In der Folge führen das beschleunigte Auftauen des Permafrostbodens und häufigere Waldbrände nicht nur zu erhöhten Treibhausgasemissionen, sondern auch zur vermehrten Bildung von kleinen flachen runden Gewässern, den sogenannten Alas-Seen“, erklärt der Experte. „In Jakutien haben diese raschen Landschaftsveränderungen höchstwahrscheinlich einen starken Einfluss auf die Verfügbarkeit von Bodenressourcen für die Landwirtschaft.“
„Bis Ende August hatten wir die Wissenschaftlerin Nurguiana Nikiforova aus Jakutien zu Gast“, fährt Prof. Dr. Streck fort. „Sie kombiniert die Auswertung von hochaufgelösten Satellitenaufnahmen mit Felduntersuchungen vor Ort, um klimabedingte Landnutzungsänderungen statistisch zu erfassen. Aufbauend darauf wollen wir den Einfluss von Landnutzungsänderungen auf Energie- und Stoffflüsse in den Ökosystemen Jakutiens und die Konsequenzen für die dort lebenden Menschen abschätzen.“
Together for „One Health“ ‒ Gemeinsam für die Gesundheit von Mensch und Umwelt
Die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt sind eng miteinander verbunden und voneinander abhängig ‒ das ist der Ansatz des „One Health“-Konzeptes („Eine Gesundheit“): Erkrankte Pflanzen gefährden die Ernährungsgrundlage und damit auch die Gesundheit von Mensch und Tier. Kranke Tiere wiederum bedrohen nicht nur indirekt die menschliche Gesundheit, weil das Fleisch nicht mehr für die Ernährung genutzt werden kann, sondern auch direkt als Überträger von Zoonosen.
Prof. Dr. Korinna Huber, Leiterin des Fachgebietes für Funktionelle Anatomie der Nutztiere an der Universität Hohenheim, interessiert sich deswegen besonders für die Auswirkungen, die die veränderten Lebensbedingungen auf die nativen Rinder in Jakutien haben und ob bzw. wie diese sich aufgrund ihrer besonderen Physiologie anpassen können. Die Art und Weise der Anpassung dieser jakutischen Rinder an Klimaschwankungen könnten Erkenntnisse liefern, die auch für andere Rinderrassen weltweit von Bedeutung sein könnten.
Auch Prof. Dr. Martin Hasselmann, Leiter des Fachgebietes Populationsgenomik bei Nutztieren, befasst sich mit den besonderen Anpassungen von Tieren auf lokaler Ebene. Sein Augenmerk gilt dabei den Honigbienen in Jakutien. Denn aufgrund der klimatischen Besonderheiten werden die Bienenstöcke im Winter für sieben Monate in beheizten Winterquartieren gehalten. „Eigentlich ist das ein idealer Brutplatz für Krankheiten“, erklärt er den Hintergrund.
„Aber wir haben erstaunlich wenig Erreger von Bienenkrankheiten gefunden. Dazu gehören wenig bis gar keine Nachweise von sonst weit verbreiteten Viren sowie von Bakterien und Parasiten“, fährt er fort. „Spannend ist jetzt die Aufklärung der Ursache dafür. Es könnte sein, dass durch diese Extrembedingungen eine verstärkte Selektion stattgefunden hat: Bienenvölker, die den Winter überlebt haben, zeichnen sich vermutlich durch eine besonders gute Gesundheit aus.“
Zoonosen könnten durch Klimawandel häufiger werden
Höhere Durchschnittstemperaturen führen darüber hinaus zu einem erhöhten Risiko von Zoonosen, also Krankheiten, die zwischen Tier und Mensch übertragen werden. Klimaänderungen beeinflussen z.B. den Vogelzug und damit die Verbreitung von Krankheitserregern und deren Vektoren. Wenn sich die Vegetationsperioden verlängern und die Lebensräume größer werden, finden Krankheitserreger und ihre Wirte wie zum Beispiel Füchse, Wölfe, Rentiere und Elche günstigere Lebensbedingungen vor.
Darüber hinaus können durch das Auftauen des Permafrosts Gräber von Nutz- und Wildtieren freigelegt werden, die an tödlichen Infektionen zugrunde gegangen sind. Der Milzbrand-Experte PD Dr. med. vet. Wolfgang Beyer, Mitarbeiter des Fachgebiets Infektions- und Umwelthygiene bei Nutztieren an der Universität Hohenheim und Leiter des deutschen veterinärmedizinischen Konsiliarlabors für Milzbrand, kennt Beispiele für die Freisetzung des Milzbrand-Erregers aus alten Tiergräbern.
Milzbrand und Echinokokkose – eine unterschätzte Gefahr?
„Die Sporen des Milzbrandbakteriums (Bacillus anthracis) können über Jahrzehnte im Permafrostboden schlummern. Werden sie nach dem Auftauen von empfindlichen Tieren aufgenommen, können sie zu neuen Ausbrüchen in Tierherden und dem Menschen führen“, erklärt er. So kam es auf der Jamal-Halbinsel in Nordwest-Sibirien im Sommer 2016 zu einem Milzbrand-Ausbruch, vermutlich weil Rentiergräber aufgetaut waren und den Erreger freigesetzt hatten.
Mit anderen Krankheitserregern beschäftigt sich Dr. Marion Wassermann vom Fachgebiet Parasitologie an der Universität Hohenheim: Bandwürmer aus der Gattung Echinococcus können bei Mensch und Tier zum Teil lebensgefährliche Infektionen auslösen. Diese Echinokokkose kommt in ganz Russland sowohl im Tier als auch im Menschen vor. „Jakutien gilt dabei als Hochendemiegebiet, das heißt, dass diese Parasiten dort vermehrt vorkommen“, erklärt Dr. Wassermann. „In einigen Gebieten können hohe Fallzahlen im Menschen gefunden werden. Die traditionelle Lebensweise mit pastoraler Tierhaltung, die in weiten Teilen des Landes verbreitet ist, fördert das Auftreten und die Verbreitung dieser Parasiten.“
Die Bandwürmer werden vor allem durch Füchse, Wölfe und Hunde übertragen, die selbst allerdings nicht nennenswert erkranken. Sie scheiden die Eier mit ihrem Kot aus, die dann von anderen Tieren, wie Rentieren, Elchen, aber auch Kühen, beim Grasfressen aufgenommen werden. Da Eier auch im Fell der Tiere zu finden sind, liegt für den Menschen eine Hauptinfektionsquelle bei der Fellverarbeitung. „Im ungünstigsten Fall kann es aber auch ausreichen, einen infizierten Hund zu streicheln und sich dann die Hände nicht zu waschen“, erklärt Dr. Wassermann.
Aus den Eiern schlüpfen dann die Larven, die sich bevorzugt in Leber und Lunge, aber auch in verschiedenen anderen Geweben einnisten. Dabei unterscheiden sich nicht nur die einzelnen Echinococcus-Arten stark in ihrer Fähigkeit, Tiere und Menschen zu infizieren und Krankheiten auszulösen – auch innerhalb einer Art gibt es Unterschiede. Eine entscheidende Rolle scheint dabei ihr Erbgut, der Genotyp, zu spielen.
Genetische Vielfalt erforschen
„So sind in manchen Regionen 100 Prozent der Eisfüchse mit dem Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) infiziert, aber kaum Menschen“, erläutert Dr. Wassermann. „Und das, obwohl die Eisfüchse geschossen und ihre Felle verarbeitet werden. In anderen Regionen dagegen sind nur 40 Prozent der Rotfüchse infiziert, aber dort gibt es teils hohe Befallsraten im Menschen. Die Ursache dafür könnte darin liegen, dass sich der Genotyp der Bandwürmer in den jeweiligen Regionen unterscheidet.“
In Zusammenarbeit mit Dr. vet. sc. Ludmila M. Kokolova vom Forschungsinstitut für Agrarwirtschaft in Jakutsk untersucht Dr. Wassermann, welche Genotypen in Wild- und Nutztieren zu finden sind und wo sie wie häufig auftreten. „Diese Erkenntnisse sind auch im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen wichtig“, erklärt sie. „Wenn wir wissen, in welchen Regionen die für den Menschen infektiösen Bandwürmer vorkommen, können die wenigen Ressourcen, die für solche Maßnahmen zur Verfügung stehen, gezielt eingesetzt werden.“
HINTERGRUND: Deutsch-Russisches Themenjahr 2018 bis 2020
Das Deutsch-Russische Themenjahr der Hochschulkooperation und Wissenschaft 2018-2020 wurde am 6. Dezember 2018 mit einer Gemeinsamen Erklärung der beiden Außenminister Heiko Maas und Sergej W. Lawrow eröffnet.
Ziel ist es, der langen Tradition der Zusammenarbeit im Hochschulbereich und in der Wissenschaft zwischen beiden Ländern eine größere Sichtbarkeit und neue Impulse zu verleihen. Verschiedene Projekte sollen den weiteren Ausbau der Zusammenarbeit und der Vernetzung zwischen Hochschulen und Wissenschaftsakteuren anregen und transparenter machen sowie den grenzüberschreitenden Austausch von Studierenden, Forschern und Lehrenden fördern.
Als Grundlage dient das Abkommen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion von 1987, das 2009 erneuert wurde. Vor diesem Hintergrund haben beide Länder die „Deutsch-russische Roadmap für die Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovation“ erarbeitet, um ihre Kooperation in diesen Bereichen zu vertiefen. Mit der Roadmap wurde erstmalig eine zehnjährige Strategie über die Zusammenarbeit mit vier Schwerpunkten gemeinsam erarbeitet.
Auf deutscher Seite organisiert der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in enger Kooperation mit dem Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) in Moskau und seinen Partnern im deutschen Wissenschaftsnetzwerk die Aktivitäten. Auf russischer Seite koordiniert die Nationale Universität für Forschung und Technologie „MISiS“. Sie ist Ansprechstelle für russische Mitwirkende.
Beteiligt sind deutsche und russische staatlich anerkannte Hochschulen, Universitäten, Forschungsinstitute und alle weiteren Einrichtungen, die einen deutlichen Bezug zu Wissenschaft, Forschung, Hochschul- und Berufsbildung oder Innovationen aufweisen.
HINTERGRUND: Forschungszentrum für Gesundheitswissenschaften
Das Forschungszentrum für Gesundheitswissenschaften (FZG) an der Universität Hohenheim fördert fakultätsübergreifend die interdisziplinäre Spitzenforschung und ihre Anwendung im Sinne des „One Health“-Konzeptes. Das FZG bietet seine Unterstützung bei der Einwerbung und Durchführung nationaler und internationaler Verbundprojekte an, sei es durch strategische Anbahnungen, Förderberatung, Vermittlung von Kooperationspartnern oder Hilfestellung bei der Antragsvorbereitung und dem Projektmanagement. Zugleich fördert es die Sichtbarkeit der Projekte, z. B. durch die Bereitstellung von themen-spezifischen Plattformen.
Text: Stuhlemmer/Elsner
Kontakte:
Prof. Dr. med. vet. Ludwig E. Hölzle, Fg. Infektions- und Umwelthygiene bei Nutztieren T +49 (0)711 459-23569, E ludwig.hoelzle@uni-hohenheim.de
Dr. Irene Huber, Forschungszentrum für Gesundheitswissenschaften (FZG) T +49 (0)711 459 24615, E irene.huber@uni-hohenheim.de
M.A. Katerina Potapova, Forschungszentrum für Gesundheitswissenschaften (FZG) T +49 (0)711 459 24688, E katerina.potapova@uni-hohenheim.de